Wolfgang Kubicki: "Freiheitsfeindliche Agenda"

[C. Hueck:]  Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki schreibt in DIE WELT vom 10.02.2022[1]:

 

"Die Grippewelle 2017/18 verursachte – ohne Impfpflichterwägungen, ohne 2G, ohne Maskenpflicht – pro Tag mehr als doppelt so viele Todesopfer wie die aktuelle Corona-Welle. Angesichts dieser Zahlen müssten eigentlich sofort alle Maßnahmen enden.

 

Versuchen wir uns an einem kleinen Gedankenexperiment. Stellen wir uns vor, eine Virusvariante träfe auf die deutsche Gesellschaft des endenden Jahres 2019. Experten rechneten uns vor, dieses leicht übertragbare Virus würde innerhalb von vier Wochen dazu führen, dass insgesamt 42 ungeimpfte, doppelt geimpfte oder geboosterte Menschen in ganz Deutschland mit oder wegen einer entsprechenden Infektion auf der Intensivstation landen werden.

 

Pro Tag würden hieran gemäß dieser Daten rechnerisch 1,93 Menschen mit entsprechendem Immunisierungsstatus bundesweit sterben. Ob der Tod infolge der vorherigen Infektion eintritt oder diese nur einen Nebenbefund darstellt, könne (und wolle) man nicht sagen. Das sei im Sinne der öffentlichen Gesundheitsvorsorge auch nicht relevant.

 

Wegen der drohenden gesundheitlichen Gefahr müsse der Verfassungsstaat im gesamten Bundesgebiet harte grundrechtseinschränkende Maßnahmen ergreifen, Menschen wegen einer eigentlich freien, aber „falschen“ Entscheidung aus dem öffentlichen Raum ausschließen und stigmatisieren, das kulturelle Leben fast bis zur Unkenntlichkeit zum Erliegen bringen und diejenigen, die individuelle Gründe gegen eine Impfung anführen, gegen ihren erklärten Willen impfen.

 

Das genaue Ziel dieser Maßnahmen sei nicht ganz klar, es sei aber notwendig, dass die Menschen durch einen Akt der gesellschaftlichen Solidarität zeigten, dass man durch sein Verhalten nicht für eine hypothetische Überlastung des Gesundheitssystems sorge.

 

Ich vermute, es ist nicht überinterpretiert, dass die bundesdeutsche Gesellschaft des endenden Jahres 2019 diese Experten zu hysterischen Freiheitsfeinden und dystopischen Spinnern erklärt hätte.

 

Nun schreiben wir das Jahr 2022, und wir haben laut RKI-Wochenbericht vom vergangenen Donnerstag die gleichen Zahlen bei der vorherrschenden Omikron-Variante. Unser Gemütszustand ist aber ein komplett anderer. Gemessen an den Maßstäben, die die freiheitliche Gesellschaft von 2019 ausmachten, scheint Deutschland innerhalb von nur rund zwei Jahren voll von angsterfüllter Freiheitsabwendung geworden zu sein.

 

Denn selbst ohne die Zahlen des RKI-Wochenberichtes müssen wir feststellen, dass die Grippewelle 2017/18 ohne Impfpflichterwägungen, ohne 2G, ohne Maskenpflicht pro Tag mehr als doppelt so viele Todesopfer verursachte als die aktuelle Corona-Welle – wie es WELT-Redakteur Olaf Gersemann jetzt bei Twitter vorrechnete.

 

Bedenken wir, dass unsere freiheitsliebende und Freiheit verteidigende Verfassung noch immer dieselbe wie 2019 ist, müssten die exekutiven Entscheidungsträger angesichts dieser Zahlen eigentlich sofort wieder alles öffnen und den Grundrechten die verdiente, „alte“ Geltung verschaffen. Denn, so schlimm jede Erkrankung und jeder Todesfall ist, absoluter Lebensschutz und Bewahrung vor jedweder Infektion durfte von Verfassungswegen bislang nie das Ziel staatlicher Eingriffe sein.

 

Es ist beängstigend, dass sich manche im politischen Raum trotzdem in diese zweifelhafte Denkrichtung bewegt haben. Wer wie Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann gönnerhaft die widerwillige „Rückgabe“ der Freiheitsrechte von der Auferstehung Jesu Christi abhängig machen will, hat sich jedenfalls bewusst dazu entschieden, sich unserer Rechtsordnung und einer wissenschaftsbasierten Argumentation intellektuell zu entziehen.

Dieses Bekenntnis Kretschmanns macht ein weiteres großes Problem offenbar. Es ist nämlich mit Händen zu greifen, dass sich das „Team Vorsicht“ so sehr in die Möglichkeit des politischen Alleinverfügungsmodus verliebt hat – der die Grundrechte zuteilen möchte und deshalb über allen rechtlichen Dingen schwebt –, dass die Überlegung der Beendigung sämtlicher pandemiepolitischen Einschränkungen dort mittlerweile zu einer undenkbaren Frivolität geworden ist.

 

Wenn der Wunsch nach Rückkehr zur vorpandemischen Freiheit als „Vulgärliberalismus“ gescholten wird, der unverantwortlich mit der aktuellen Situation umgehe, zeigt sich hieran die Zerstörung eines über Jahrzehnte aufgebauten Freiheitskonsenses. Dieser bundesrepublikanische Freiheitskonsens hatte gewissermaßen ein Gefühl dafür entwickelt, wie weit staatliche Eingriffe in die individuellen Freiheitsrechte gehen dürfen.

 

Angesichts der genannten Omikron-Zahlen und dem Unwillen einiger, sich mit Öffnungsdiskussionen überhaupt zu beschäftigen, zeigt sich jetzt: Der Konsens wurde nicht von jenen aufgekündigt, die sich eine schnellstmögliche Rückkehr in die Freiheit wünschen. Sondern von jenen, denen schon vor der Pandemie der Sinn nach mehr und tieferen staatlichen Eingriffen stand. Die coronabedingte Spaltung der Gesellschaft hängt zu einem beträchtlichen Teil an dieser Konsensaufkündigung.

 

Es wird die große freiheitspolitische Aufgabe der kommenden Zeit sein, die paternalistischen Pflöcke, die in den vergangenen zwei Jahren vor allem unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel eingerammt wurden, wieder auszugraben. Wir müssen die paralysierende Angstspirale durchbrechen, die die bevormundenden politischen Anwandlungen erst ermöglicht hat.

Wer jetzt erklärt, wir müssten uns bereits heute vor einer neuen Variante fürchten, die es noch nicht gibt, muss sich vorwerfen lassen, seine selbstbezogenen Gängelungsüberlegungen über die Freiheit aller zu stellen. Und wir müssen die Maßnahmenpolitik der Corona-Krise alsbald einer parlamentarischen Überprüfung zuführen, um für künftige Gefährdungen der Freiheit gewappnet zu sein.

 

Hierbei wird selbstverständlich auch die Rolle des Robert Koch-Institutes besondere Beachtung finden müssen. Denn dem weitverbreiteten Eindruck, unter Lothar Wieler habe die dem Gesundheitsminister unterstellte Behörde vor allem der pseudowissenschaftlichen Abschirmung der politischen Maßnahmen gedient, kann nur mit energischer Aufklärung verantwortungsvoll begegnet werden.

 

Ich glaube nicht daran, dass der Staat meine persönlichen Dinge besser regeln kann als ich selbst. Ich selbst habe mich aus freien Stücken impfen und boostern lassen, weil ich für mich persönlich darin einen Sinn gesehen habe. Für andere kann und möchte ich dabei nicht sprechen – und ich möchte auch nicht, dass der Staat dies tut.

 

Vor diesem Hintergrund habe ich das Wort von der „positiven Freiheitsbilanz“, die angeblich durch eine Impfpflicht ermöglicht werde, nie als freiheitlich verstanden. Denn wer entscheidet für mich eigentlich, was meine persönliche positive Freiheitsbilanz ist? Die Mehrheit im Verfassungsstaat? Mit dieser Logik könnten wir die individuellen Freiheits- und die Minderheitenrechte kübelweise über Bord werfen.

 

Das Ende der Pandemie ist nah, der Übergang zur Endemie wird erkennbar. Es wird immer klarer, wir werden mit dem Virus leben müssen. Zur Wahrheit gehört auch: Wir werden nicht mit Sicherheit verhindern können, dass Menschen aufgrund einer Infektion schwer erkranken und sterben. Staatliche Aufgabe ist es, im Rahmen der Daseinsvorsorge die Gesundheitsversorgung aller zu sichern und jedem die bestmögliche medizinische Versorgung zu gewährleisten.

Wer darüber hinaus jedoch den Eindruck vermittelt, der Staat hätte die zusätzliche Aufgabe, sämtlichen Lebensrisiken mit entsprechenden Grundrechtseingriffen zu begegnen, hat eine freiheitsfeindliche Agenda. Der Mensch im freiheitlichen Verfassungsstaat ist ein Bürger, nicht ein gängelungsbedürftiger Untertan. Deshalb müssen die Maßnahmen enden."

 

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[1] https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus236785519/Corona-Pandemie-Wir-muessen-die-Angstspirale-durchbrechen.html 

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