NZZ: König Kretschmann und der autoritäre Corona-Staat

[C. Hueck:] Marc Felix Serrao, Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung in Deutschland, schreibt heute:

 

Die Geschichte des Winfried Kretschmann war lange eine einzigartige Erfolgsstory der deutschen Politik. Der erste grüne Ministerpräsident kam sowohl bei vielen bürgerlichen Wählern als auch bei Unternehmern in Baden-Württemberg an. Er kam so gut an, dass Angela Merkel den früheren Lehrer zum Bundespräsidenten machen wollte. Selbst Markus Söder, der eigentlich nur den seligen Franz Josef Strauss und sich selbst für Staatsmänner von Format hält, suchte immer wieder Kretschmanns Nähe.

 

Doch mit der Ehrerbietung kommt oft der Hochmut, und er kam auch ins baden-württembergische Staatsministerium. «Wir brechen jetzt keine Exit-Strategie-Debatte vom Zaun», dekretierte Kretschmann in dieser Woche. Es ging um Lockerungen der Corona-Maßnahmen, wie sie bereits in mehreren europäischen Ländern angelaufen sind, zuletzt in der Schweiz. 

 

Seine Majestät wünscht nicht zu debattieren

 

Die Botschaft des Ministerpräsidenten war in doppelter Hinsicht bemerkenswert. Kretschmann sagte «wir» statt «ich», als spräche er fürs ganze Ländle. Den Pluralis Majestatis kennt man sonst nur von Monarchen. König Winfried wollte seine Botschaft auch nicht als Beitrag zu einer Debatte verstehen (die längst überall im Land stattfindet). Er wollte sie untersagen, bis Ostern. Das ist in zehn Wochen.

 

Was auf den autoritären Auftritt folgte, war ein Protest, wie ihn der Grüne seit seiner Amtsübernahme vor bald elf Jahren selten erleben musste – vor allem aus der Wirtschaft. Viele Betriebe seien existenziell bedroht, schimpfte der Präsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertages. Die Innenstädte drohten «im Rekordtempo zu veröden». Es brauche «ein klares Signal, was ab Frühjahr wieder möglich sein wird», nicht in ein paar Monaten, sondern jetzt.

 

Kretschmann musste zurückrudern, zumindest ein bisschen. Von einem «Exit» will er nach wie vor nichts wissen, Lockerungen seien aber grundsätzlich möglich – gemäß der «Stufenlogik» seines Bundeslandes. Gemeint ist eine zehnseitige Ansammlung von Tabellen, die haarklein festschreiben, was bei welcher «Alarm-» oder «Warnstufe» erlaubt ist.

 

Anmaßung in Tabellenform

 

Es lohnt sich, diesen Plan zu lesen. Er ist ein Dokument der bürokratischen Anmaßung, über das man lachen müsste, wenn nicht so viele wirtschaftliche Existenzen bedroht wären.

 

So legt die baden-württembergische «Warnstufe» fest, dass Veranstaltungen mit bis zu 5000 Besuchern bei 100 Prozent Auslastung erlaubt sind (darüber hinaus sind 50 Prozent Auslastung bei nicht mehr als 25 000 Besuchern gestattet). Bei «Alarmstufe I» gilt: maximal 50 Prozent Auslastung, aber nicht mehr als 1500 Besucher in geschlossenen Räumen und 3000 Besucher im Freien. Für Veranstaltungen mit mehr als 500 Besuchern muss es zudem feste Sitz- und Stehplätze geben, davon maximal 10 Prozent Stehplätze. Außerdem gilt «2 G». Bei «2 G plus» sind etwas mehr Besucher gestattet. In der «Alarmstufe II» muss wiederum «2 G plus» gelten, und die erlaubte Gruppengröße fällt auf «nicht mehr als 500 Besucher*innen». Beim Lesen sieht man irgendwann nicht nur Gendersterne.

 

Das Hauptproblem dieses Planes (und ähnlicher Pläne in anderen deutschen Bundesländern) aber ist die Basis, auf der die verschiedenen Warn- und Alarmstufen greifen: Neben der Zahl der mit Covid-19-Patienten belegten Intensivbetten kommt es auf die sogenannte Hospitalisierungsinzidenz an. Diese steigt allerdings auch, wenn Patienten mit, aber nicht wegen Corona im Spital landen, wenn sie bei der Neuaufnahme also positiv auf Corona getestet werden, ohne Covid-19-Symptome zu zeigen. Seit Ausbreitung der Omikron-Variante gibt es davon immer mehr. Und während die Zahl der Corona-Neuinfektionen rapide steigt, sinkt die Zahl der Erkrankten, die deshalb auf die Intensivstation kommen.

 

Die Methode Kretschmann zeigt, wie sich das Kräfteverhältnis zwischen Regierenden und Regierten verschoben hat. Galt vor zwei Jahren noch die Devise, dass der Staat die Freiheitseinschränkungen zum Schutz vor dem gefährlichen Virus rechtfertigen muss, sehen heute viele im eingeschränkten Pandemie-Alltag den Normalfall. Wer diesen Zustand beenden will, muss sich rechtfertigen. Nach dem Motto: Das Virus mag nicht mehr so gefährlich sein wie einst, aber wer weiß, was noch kommt, im nächsten Herbst oder dem danach. Mit dieser Logik landet man am Ende im prophylaktischen Dauerkrisenmodus.

 

Dazu wird es nicht kommen, auch in Deutschland nicht. Die Frage ist, wann die Freunde des autoritären Corona-Staats erkennen, dass ihre Zeit abläuft.

Kommentare: 0