[Christoph Hueck: ] Wir geben hier einen lesenswerten Artikel des Chefredakteurs der Neuen Zürcher Zeitung, Eric Gujer, vom heutigen Tag wieder. Über politischen Aktionismus,
mediale Hysterie und Kontroll- und Machbarkeitswahn. (Der Artikel wurde aus dem kostenlosen Newsletter der NZZ übernommen.)
"Als die Pandemie begann und Europa im Lockdown versank, reagierte der Supermarkt um die Ecke mit Bodenmarkierungen. Mit Klebestreifen wurde festgelegt, wo die Kunden
entlanglaufen mussten. So sollten die Kontakte im Eingangsbereich reduziert werden. Dass man einander in den engen Gängen zwischen Regalen nicht ausweichen konnte,
spielte keine Rolle. Hauptsache, es gab ein «Schutzkonzept». Ob es etwas taugte, war zweitrangig.
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Irgendwann verschwanden die Klebestreifen wieder. Der Aktionismus ist geblieben. Immer neue Maßnahmen werden ersonnen, manche werden später aufgehoben, andere schlicht
vergessen. Der derzeitige Leitfaden der baden-württembergischen Landesregierung, «Corona-Regeln auf einen Blick», umfasst elf Seiten, eng bedruckt mit Text und
Diagrammen. Auf einen Blick? Um sich darin zurechtzufinden, braucht es ein abgeschlossenes Hochschulstudium, eine mehrjährige Berufstätigkeit in der Verwaltung und
viel Geduld.
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Hauptsache, es gibt «Schutzkonzepte». Ob sie jemand versteht, ist sekundär. Die nunmehr seit zwei Jahren andauernde Selbstermächtigung der Bürokratie wird begleitet
von Panikmache in Politik und Medien. Gegenwärtig erleben wir nicht eine Welle von Infektionen, sondern eine sich auftürmende «Omikron-Wand» («Süddeutsche Zeitung»).
Dass wir ungebremst gegen die Wand prallen – diese Assoziation wird wohl absichtlich geweckt.
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Medien und Politiker spielen sich die Bälle zu
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Wie einzelne Publikationen gezielt Hysterie schüren, belegt der Branchendienst «Übermedien» anhand von «Quarks», dem Wissenschaftsmagazin des Westdeutschen Rundfunks
(WDR). «Darum brauchen wir schnell einen Lockdown», lautete im Dezember eine der Schlagzeilen des Magazins, das für Weihnachten ein Horrorszenario von 86 000
Neuinfektionen pro Tag ausmalte. Tatsächlich waren es nicht einmal die Hälfte.
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Um die höheren Zahlen zu rechtfertigen, rechnete die der WDR-Drohkulisse zugrunde liegende Modellierung eine Dunkelziffer dazu. Dunkelziffern haben den Vorteil, dass
sich mit ihnen jede noch so fragwürdige Statistik wissenschaftlich verbrämen lässt. Bleigießen an Silvester ist auch eine Methode, um die Zukunft zu «modellieren».
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Diese Stimmung greifen Politiker begierig auf. Es sei «zehn nach zwölf», behauptete der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn im November 2021, und der bayrische
Ministerpräsident Markus Söder orakelt düster, Corona sei die «größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg». Wo sich Politiker im totalen Krieg wähnen, handeln
sie entsprechend.
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Solche Äußerungen sollen den Eindruck absoluter Dringlichkeit erzeugen, mit der sich weitere Maßnahmen rechtfertigen lassen. Geneigte Medien applaudieren daraufhin, um
noch mehr Restriktionen zu fordern. In der Physik spräche man von einer Rückkopplung.
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Wie perfekt das funktioniert, verriet Marc Walder, der CEO des Schweizer Medienkonzerns Ringier, als er in einem Vortrag seine publizistische Devise in der Pandemie
preisgab: «Wir hatten in allen Ländern, wo wir tätig sind, auf meine Initiative hin gesagt: Wir wollen die Regierung unterstützen durch unsere mediale
Berichterstattung.»
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Entzieht Omikron der Debatte um die Impfpflicht die Grundlage?
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In diesem Kreislauf von Reiz und Reaktion fällt die Politik Entscheidungen, die nicht zwangsläufig besser sind als Bodenmarkierungen im Supermarkt. So wird eine
allgemeine Impfpflicht erörtert, die angesichts ihres gesetzgeberischen und organisatorischen Vorlaufs allerdings erst in einigen Monaten in Kraft treten kann. Wenn
das derzeit diskutierte virologische Szenario eintrifft, kommt die allgemeine Impfpflicht zu spät – und taugt dann allenfalls als trauriges Mahnmal einer ebenso
aktionistischen wie gescheiterten Politik.
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Wenn ohnehin regelmäßig Auffrischimpfungen notwendig werden, lässt sich nicht mehr mit vernünftigem Aufwand überprüfen, ob die Bevölkerung der Impfpflicht nachkommt.
Zudem stellt sich immer mehr die Frage nach dem medizinischen Sinn. So häufen sich trotz Booster die Impfdurchbrüche, warum dann noch Zwang?
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Der nicht eben für Schönfärberei bekannte Virologe Christian Drosten erklärte in der «Süddeutschen Zeitung», dass Omikron wegen seiner hohen Ansteckungsrate «die
Sars-CoV-2-Variante sein wird, die uns in die endemische Lage begleiten wird».
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Omikron hilft offenkundig, eine Grundimmunisierung der Bevölkerung zu erzielen. Zugleich fallen laut diversen Studien die Krankheitsverläufe milder aus, weil die
Variante bevorzugt die oberen Atemwege und nicht die Lunge befällt. Jedenfalls nehmen die Todesfälle bei weitem nicht so zu, wie die sprunghaft angestiegenen
Infektionen erwarten lassen.
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Wird also die Variante, die vor kurzem noch die Wand war, gegen die wir ungebremst rasen, zum rettenden Notausgang? Niemand kann das mit Bestimmtheit voraussagen.
Gewiss ist nur: An aufgeregten Metaphern herrscht in der Pandemie kein Mangel. Sie kaschieren nur notdürftig die Ahnungslosigkeit derer, die sie sich ausdenken.
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Der gesunde Menschenverstand legt nahe, die Prognosen aus dem politisch-medialen Komplex mit Vorsicht zu genießen. So war die Vorhersage falsch, die Seuche werde ihre
Wucht einbüßen, sobald der Impfstoff vorliege. Die jüngste Spekulation lautet, kritische Infrastrukturen wie das Gesundheitswesen würden unter der Last von Omikron
kollabieren.
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Zu gutem Krisenmanagement gehört, sich auf alle Wechselfälle einzurichten. Aber Eventualitäten sind noch keine Tatsachen. Diese Erkenntnis scheint während der Seuche
verloren gegangen zu sein. Modellierungen beanspruchen in der allgemeinen Wahrnehmung längst den Rang von Fakten, obwohl sie nur Hochrechnungen sind.
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Sicher hingegen ist, dass das Virus dem Menschen meist einen Schritt voraus ist. Gleichgültig, welche Maßnahmen Regierungen auch ergreifen, es lauert schon die nächste
Mutation. Der Krankheitserreger zeigt sich erfinderischer als der Mensch. Für den Homo sapiens ist das eine existenzielle Demütigung.
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Das Virus zeigt den Herren des Universums ihre Grenzen auf
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Immerhin leben wir nach Ansicht mancher Klimaforscher im «Anthropozän», dem vom Menschen gemachten Zeitalter. Unsere Kontrolle über die Natur und die damit verbundenen
Verheerungen stellen alle anderen Kräfte so sehr in den Schatten, dass es gerechtfertigt erscheint, den Menschen in den Mittelpunkt der Erdentwicklung zu rücken.
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Aber dann kommt ein Virus und zeigt dem über den Globus herrschenden, vernunftbegabten Tier seine Grenzen auf. Die schnell entwickelten Impfstoffe sind zwar eine
wirksame Waffe, aber auch sie können die Pandemie nicht stoppen. Der Homo sapiens muss sich einer Gewalt beugen, die augenscheinlich grösser ist als er.
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Die griechische Mythologie erzählt, wie sich die Menschheit gegen die Götter auflehnt und am Schluss doch verliert. Ikarus stürzt ins Meer. Prometheus wird an den Fels
geschmiedet und seine Leber dem Adler zum Frass vorgesetzt. In der Pandemie kompensieren wir die Zumutung des Ausgeliefertseins durch Aktionismus.
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Alle Schutzkonzepte, Einschränkungen und Vorstöße für eine Impfpflicht dienen dem rationalen Zweck, die Seuche zu bekämpfen. Sie tragen aber auch einen irrationalen
Kern in sich. Wir würden nur zu gerne im Anthropozän leben und sträuben uns deswegen mit allen Mitteln gegen das Eingeständnis der eigenen Machtlosigkeit.
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Nirgends wird das utopische Element der Pandemiepolitik deutlicher als in den Extremformen des Diskurses, bei radikalen Maßnahmen-Befürwortern und Corona-Leugnern. Die
einen propagieren «Zero Covid» und glauben, durch die absolute Stilllegung des sozialen Lebens das Virus ausrotten zu können. Die anderen beharren darauf, dass Corona
nicht schlimmer als Schnupfen sei. In pseudowissenschaftlichem Furor häufen sie Statistik auf Statistik, um ihre Weltsicht zu belegen.
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Die geimpfte, geboosterte und zur Mäßigung neigende Mainstream-Gesellschaft bewegt sich zwischen den Extremen und hofft, «die Wissenschaft» werde Corona schon in den
Griff bekommen. Die Utopie lautet in allen Variationen: Wenn wir uns anstrengen, wird alles gut. Dann erobern wir die Verfügungsgewalt über unser Leben und die Natur
zurück.
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Die Hohepriester der Hysterie machen sich das Verlangen nach Kontrolle zunutze, indem sie noch mehr Anstrengung, noch mehr Restriktionen fordern. Doch auch der
härteste Lockdown bringt in der Pandemie keine völlige Sicherheit. Man muss daher lernen, mit Unsicherheit zu leben, mit einer permanenten Gefährdung.
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Vor der Aufklärung fühlte sich der Mensch selbstverständlich in Gottes Hand. Im säkularen 21. Jahrhundert ist diese Geborgenheit dahin. Es wäre nicht falsch, wenn wir
wenigstens eine Schwundform des alten Gottvertrauens behielten: Demut und Bescheidenheit in dem Wissen, dass der Mensch eben doch nicht der Meister des Universums ist;
und Skepsis gegenüber einem Machbarkeitswahn, der für alle Übel eine schnelle Lösung verspricht."
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