[Christoph Hueck:] Es gab eine Bühne vor dem Reichstagsgebäude [1, 2] sowie eine "Kundgebung" mit offenbar bekannter "Versammlungsleitung". [2] Solche Kundgebungen im "befriedeten Bezirk" können nur stattfinden, wenn sie mindestens 7 Tage vorher beim Bundesinnenministerium angemeldet und genehmigt werden. [7]
Die Berliner Morgenpost schrieb über den "Sturm auf den Reichstag" am 31.8.: "Wie konnte das geschehen? Die Demonstration vor dem Reichstagsgebäude war – anders als die große Kundgebung an der Siegessäule und der aufgelöste Aufzug an der Friedrichstraße - nicht von der Initiative ‚Querdenken‘ angemeldet worden. Als Anmelder fungierte nach Informationen der Berliner Morgenpost vielmehr eine Einzelperson namens Rüdiger Hoffmann. Hoffmann war einst in der Neonazi-Partei NPD aktiv. Dann gründete er das Projekt ‚staatenlos.info‘. Der Verfassungsschutz rechnet die Gruppierung der Reichsbürger-Szene zu. Ihre Anhänger erkennen demnach nicht die deutsche Rechtsordnung an und sie leugnen die staatliche Souveränität der Bundesrepublik." [3]
Rüdiger Hoffmann ist ein wegen versuchten Mordes verurteilter Nazi, der einen Angriff auf ein Asylbewerberheim mit Molotow-Cocktails organisiert hatte. Hoffmann organisiert seit 2013 einen jährlichen "Sturm auf den Reichstag". [4]
Das BMI - und sicher auch der Berliner Innensenator - haben also gewusst , dass am 29.8. im befriedeten Bezirk vor dem Reichstag eine Kundgebung von einem Neonazi stattfinden würde, der seit Jahren "Sturm auf den Reichstag" spielt. Warum war der Reichstag dann nicht durch mehr Polizei gesichert?
Am Mittwoch, 26.8. hatte Innensenator Geisel die Großdemo u.a. mit der Begründung verboten: „Ich bin nicht bereit ein zweites Mal hinzunehmen, dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner,
Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird." [5] Zu diesem Zeitpunkt war die Hoffmann-Demo vor dem Reichstag aber längst genehmigt. Geisel wusste also, auf welcher "Bühne" sich die
Reichsbürger breitmachen würden.
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[Update:] Wie der Berliner Tagesspiegel am 19.9.20 berichtete [8], gab es "für die Demonstration von Rechtsextremen am Reichstag gar keine Genehmigung vom Innenministerium. Die Polizei hätte sie unterbinden müssen." Der Tagesspiegel bestätigte damit auch, dass die Demonstration vor dem Reichstag nichts mit der großen Anti-Maßnahmen-Demo auf der Straße des 17. Juni zu tun hatte: "Für die vom Verein 'Staatenlos' um den Ex-NPD-Kader Rüdiger Hoffmann angemeldete Kundgebung lag keine Ausnahmegenehmigung des Bundesinnenministeriums vor, wie ein Sprecher dem Tagesspiegel sagte. Diese Genehmigung wäre nach dem Gesetz aber nötig gewesen, da die Kundgebung im sogenannten befriedeten Bezirk um den Bundestag abgehalten wurde. Nicht gemeint ist damit die große Corona-Demo auf der Straße des 17. Juni, die am selben Tag stattfand. Obwohl diese Ausnahmegenehmigung des Bundesinnenministeriums nicht vorlag, ließ die Polizei die Kundgebung zu." "Politisch verantwortlich für die Panne und die weltweit beachteten Bilder vor dem Reichstag samt schwarz-weiß-roter Reichsfahnen ist Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD)."
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Dazu passen dann auch die unklaren Aussagen von Regierungssprecher Seibert vom 31.8.: "Ich möchte zunächst auf die Demonstrationsereignisse hier in Berlin an diesem Wochenende eingehen. Wir haben am Wochenende ein Beispiel dafür erlebt, wie aus einer Demonstration heraus von einigen das Demonstrationsrecht, die Demonstrationsfreiheit missbraucht worden ist." Das klingt so, als ob das Geschehen auf der Reichstagstreppe von der großen Querdenken-Demo ausgegangen wäre. Der Sprecher des BMI erklärte auf Nachfrage: "Wir haben allerdings jetzt keine konkreten Kenntnisse, wo genau diese Situation am Reichstag resultierte, aus welcher Veranstaltung sie entstanden ist und können das insofern nicht klar benennen." Man muss aber annehmen, dass sie es sehr klar benennen konnten, zumal der BMI Sprecher auf Nachfrage dann noch erklärte, dass etliche V-Leute im Einsatz gewesen seien. [6]
Es war also offensichtlich schon im Vorhinein klar und sogar billigend in Kauf genommen, dass es einen "Sturm auf den Reichstag" geben würde. Ein paar einsame Polizisten hielten den Angriff der Staatsfeinde heldenhaft auf, dann stürmte die rettende Hundertschaft heran. Die dramatischen Bilder wurden dann auch weithin dazu benutzt, um die Öffentlichkeit von dem friedlichen und berechtigten Anliegen der Querdenken-Demo abzulenken.
Dazu gehört dann auch noch die weitere, wort- und bildmächtige Darstellung des Geschehens als ein „unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie“ (Steinmeier) inklusive der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an die drei Polizisten. Was für eine Farce!
Christoph Hueck
Ergänzt am 30.4.2021
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[1] Aus dem Liveticker der Frankfurter Rundschau: "+++ 17.32 Uhr: Polizeisprecher Thilo Cablitz sagt, dass es vor dem Reichstag zu Rangeleien gekommen sei. Auf der Bühne vor dem Reichstag hatte unter anderem Vegan-Koch Attila Hildmann gesprochen." www.fr.de/politik/berlin-corona-demo-kundgebung-querdenken-711-protest-polizei-zr-90033019.html
[2] Live Ticker FR: "+++ 20.18 Uhr: Die Kundgebung vor dem Reichstag in Berlin „wird insbesondere aufgrund der gezeigten gewalttätigen Unfriedlichkeit von uns polizeilich aufgelöst“, so die Polizei auf Twitter. Die Versammlungsleitung wurde darüber in Kenntnis gesetzt. Die Beamten informieren die Teilnehmer über Durchsagen." Siehe auch: www.youtube.com/watch?v=I_aJwGwVH7o
[5] www.berlin.de/sen/inneres/presse/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.980587.php
[7] www.bmi.bund.de/DE/service/kontakt/befriedeter-bezirk/befriedeter-bezirk-kontakt-node.html
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G Busch (Donnerstag, 03 September 2020 12:29)
Sehr geehrter Hr Hueck,
Rechtfertgungen bringen hier wenig.
(Auf KenFmM sind doch die Bilder für die Demo Befürworter gezeigt!)
Bei der Demo wurde die Absetzung der der Regierung von den Organisatoren verlangt. Nach Auflösung der Demo sollten Gesetze nicht mehr gültig sein. Hier scheinen undemokratische Kräfte zu wirken. Mir fehlten Ideen, neue Ansätze, konstruktive Vorschläge wie die Krise zu bewältigen ist.
Eigentlich das, was ich in den vielen Jahren, wo ich auch aktiv in der Waldorfbewegung war erfahren konnte. Diese Demobündnisse stellen die Waldorfbewegung wieder in den Zusammenhang mit Esoterikern, Verschwörungstheorien, fatale Folge.
Nehmen sie doch hierzu Stellung:
Artikel aus Zeit online:
Sind das jetzt alles Nazis?
Esoterische Hippies und anthroposophische Hausfrauen mögen ästhetisch mit der linken Mitte zu verwechseln sein. Ihr Brückenschluss zur radikalen Rechten ergibt aber Sinn.
Eine Analyse von Annika Brockschmidt
1. September 2020,
https://www.zeit.de/kultur/2020-09/querdenken-demo-corona-protest-rechtsradikale-linksradikale-b2908

Ursula Gluske-Tibud (Donnerstag, 03 September 2020 15:34)
Diese Erklärungen von Christoph Hueck klingen nicht nur wie eine Entschuldigung, sondern folgen dem Muster von Verschwörungen. Querdenken hat damit doch gar nichts zu tun. Stimmt. Aber warum muss verbreitet werden, dass es inszeniert wurde, anstatt betroffen zu sein, dass es stattfand? An der Siegessäule wurde friedlich demonstriert. Wer würde da widersprechen? Ich verstehe trotzdem nicht, dass sich Querdenken und Anthroposophen, die das unterstützen, es dulden, dass nicht nur von der AfD, sondern auch von Compact und den Reichsbürgern zu dem "großen Tag" aufgerufen wurde. Die Reden von der Abgrenzung gegen Rechte UND Linke klingen wie Lippenbekenntnisse. Energisches Eintreten sieht anders aus. Herr Ballweg wertet die Reichsflagge als nicht Rechtsextrem, weiß er wirklich nicht was Schwarz/Weiß/Rote-Fahnen bedeuten?
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Flaggen_Deutschlands_(1933–1935)
Oder alles V-Leute, die eingeschleust wurden? Übrigens waren die Linken bei der Gegendemo.
https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/interview-ballweg-querdenken-100.html
Michael Christian Gerhard Günther (Sonntag, 06 September 2020 13:51)
In dieser Diskussion webt noch etwas mit, was ich in seiner konkreten Bedeutung (Wirkung) nicht beurteilen kann, weil ich keine praktischen Einblicke habe in die anthroposophische Szene außer wenig Schriftlichem.
In diesem Zusammenhang ist für mich persönlich hilfreich die Unterscheidung zwischen historischer Anthroposophie und Anthroposophie in der Gegenwart. Dieses Bewusstsein hat seine wohltuende Konsequenz und grenzt mein Menschsein ab von diversem Inhaltlichen, dem ich kritisch gegenüber stehe und zum Teil sogar ohne Wenn und Aber aus meinem Gegenwartsbewusstsein (bezugnehmend auf die Gegenwart) heraus als falsch ansehe. Das betrifft auch Formulierungen und Themenbereiche aus dem Gesamtwerk Rudolf Steiners (aus heutiger Sicht teils hochproblematisch, meine ich). - Für meinen Bezug zur Anthroposophie bin ich verantwortlich und genauso für die damit differenzierten Begründungen. In diesem Sinn trage ich Verantwortung für Anthroposophie und befinde mich so in normalem sozialen Geschehen auch innerhalb des Freundeskreises der Anthroposophie.
Bezugnehmend auf den weltbekannten Spruch des Konfuzius, der Mensch hat dreierlei Wege klug zu handeln usw., rate ich jedem, die Erfahrung und das Denken keinesfalls zu vernachlässigen, weil ansonsten nach meiner Meinung hinderliche Hörigkeit möglich ist. (Pardon für diesen leicht überheblich klingenden Ratschlag). Zu meinen Überzeugungen gehört auch: Wissenschaft ist Wissenschaft. Deshalb ist die normale Dialogfähigkeit zwischen offiziellem Wissenschaftsbetrieb und anthroposophisch orientiertem Wissenschaftsbewusstsein (konkret betrachtet) nun wirklich kein Problem. Oder wo liegt das Problem? Doch nicht in der Wissenschaft an sich!
Die daraus resultierende Konsequenz bezüglich der Kommunikation miteinander: Ehrlichkeit und bestmögliche Offenheit mit Blick auf die eigenen Überzeugungen (Gesinnungen). Milde formuliert, die Historie offenbart konservative Geschehnisse innerhalb anthroposophischer Meinungsbildungen und damit Sozialisationen (als historische Tatsachen) und vereinzelt "darüber hinaus" ... . Deshalb sind deutliche Worte, so oder andersherum, wider nebligen Vermutungen (befreiend) begrüßenswert! (Aus heutiger Sicht zeigt das Gesamtwerk Rudolf Steiners eine sogar überwiegend konservative Haltung, das vermute ich; diese Art muss aber keinesfalls durchgehend "bremsend" sein ... . Usw. ).
(Gibt es geistesgegenwärtige Anthroposophie in der heutigen Zeit? Ich beantworte das eindeutig mit ja. Mann / Frau brauchen sich nur auf ihre ART besinnen und diesbezüglich gesunden Abstand wahren mit Blick auf die (individuelle, einschließlich spezieller Sozialisation) Initiative Rudolf Steiners. Das Prinzip dieser Initiative ist entscheidend. Und wir stehen heute vor veränderten Fragestellungen als vor hundert Jahren).
Nach meiner Meinung verdeutlicht die Covid-19-Krise das hier sehr fragmentarisch skizzierte; und natürlich hat jeder Interessierte seine Sichtweisen darauf. Die ergebnisoffenen Diskurse sind grade in der heutigen Zeit pro Verstehen (auch wissenschaftlicher Ergebnisfindung) angesagt.
Der Waldorfschulbewegung wünsche ich weiterhin ihre gegenwartsbezogene (moderne) ART zum Wohl der Kinder und gesamtgesellschaftlichem schulpädagogischen Fortschritt.
Max Meier (Dienstag, 08 September 2020 21:47)
Ist das wirklich das geeignete Umfeld? Echt jetzt? https://www.youtube.com/watch?v=lMC_yOgCPIo. Oder beruht dieser Spiegelbeitrag nur unklares Denken der Leitmedien, wie es A. Neider schreibt? Vielen Dank Frau Gluske-Tibud für den vorigen Kommentar und vielen Dank Herr Wagemann für den (vergeblichen?) Versuch schon früher hier im Blog.
Michael Christian Gerhard Günther (Dienstag, 15 September 2020 12:42)
Ich erlebe den Demonstrationstag am 29. August 2020 als hochspannend und zwar nur positive betrachtet (bezüglich Erfahrungsgewinn), weil er Einblicke schenkt in gesamtgesellschaftliche Meinungsprozesse, die der Interessierte hautnah, jetzt auf der Straße "geöffnet", beobachten kann.
Bezogen auf die Bewegung Querdenken meine ich, das hier eine reiche Fundgrube war (ist) bezüglich Reflexionen für weitere Initiativen. Wenn diese Bewegung sich ernst nimmt und in diesem Sinn Ausdauer zeigt, dann besteht in der Tat die Möglichkeit anerkennenswerter politischer Entfaltung. Man muss abwarten. ... .
Wenn sozusagen das Kernthema von Querdenken, was weit über die kritische Haltung bezüglich Impfen hinausgeht, wie ich es wahrnehme, als politisches Programm sich in seinen Verflechtungen mit ökologischen Herausforderungen manifestiert und gleichzeitig die dafür förderlichen gesamtgesellschaftlichen sozialen Strukturen dem angeglichen werden sollen, dann könnte eine interessante Positionierung erarbeitet werden. Frau / Mann müssen dafür gleichzeitig Kante zeigen, wie in einem Leserbrief formuliert wurde. Das ist einerseits immer ein schmerzhafter Prozess. Dementsprechend engagierte Bürger dürfen das überbetont Abstruse im Blick behalten zum Wohl ihres politischen Engagements. Für mich persönlich bleibt in diesem Zusammenhang interessant sozusagen die Einordnung in entsprechender Landschaft, eine starke Herausforderung, denn wir haben umfassend hervorragende Volksvertreter in unserer Parteienlandschaft. Man braucht schon erhebliches Standvermögen und fundierte Argumente für langfristigen Erfolg. Ich persönlich erlebe mich durch die von mir gewählte Partei gut vertreten.
Die Überraschung für mich innerhalb des hiergemeinten Demonstrationsgeschehens ist das Meinungsgemisch der derzeitigen rechten Szene und überhaupt damit verknüpfte Motivationen einschließlich ihrer teils auch wirtschaftlichen Interessen, begünstigt durch das Internet und "alternative" Medien. Irgendwie bremst das derzeit die Gefahr marschierender Willensbekundungen im großen Stil. Trotzdem halte ich jegliches rechtsradikale Gedankengut (Denken) für brandgefährlich, und jeder muss zusätzlich immer mit den "Wölfen" im Schafspelz rechnen.